Wann genau weiß man eigentlich, dass man ein Musikalbum so richtig geil findet? Und wann genau weiß man eigentlich dann wiederum, dass das Album eines der besten des laufenden Jahres ist? Hier eine leicht zu merkende Regel, werte Leser*innen: wenn man bereits beim ersten Mal Durchhören aus purem Reflex heraus bei mehreren Songs laut mitsingen will und einem nach mehrmaligem Hören permanent Songtexte im Ohr kleben, so als hätten einem Bienen direkt in den Gehörgang geschissen, dann kann man die eingangs erwähnten Fragen durchaus bejahen.
East End Chaos aus Dresden haben vor Kurzem genau ein solches Album rausgehauen. Die Scheibe heißt „Endstation Lethargie“ und ist ein dermaßen dickes Ding, dass selbst der Bizeps von Arnold Schwarzenegger dagegen schmächtig wirkt. Dabei muss auch erwähnt werden, dass die Ostendchaoten hier eine Art „liebeserklärenden Abgesang“ an die Punkszene geliefert haben, der seines Gleichen sucht. Das ist Mugge, der man anhört, wie ernst sie gemeint ist und dass hinter den einzelnen Songs Geschichten und Menschen stehen, die es absolut wert sind gehört, zu werden.

Den Anfang macht der titelgebende Song „Endstation“. Intelligent und derbe angefressen pflügt der Song die ersten Rillen in die Ohrmuschel. Krass gut geschrieben und musikalisch genau auf die 12! Wie eigentlich das gesamte Album. Ich finde es halt auch immer wieder beeindruckend, wie manche Menschen es hinkriegen, meine eigenen Gedanken immer wieder in die Songs ihrer Bands einzuarbeiten, ohne das vorher mal mit mir zu besprechen.

„Der Griff nach den Sternen wurde abgeschafft. In der Mitte der Masse liegt unser Lieblingsplatz. Ideen ersticken in Bürokratie, die letzte Haltestelle: Endstation Lethargie!“

Ähnliches gilt auch für „Wenn wir untergehen“, ein Song, der absolut klar macht, dass wir alle in derselben Scheiße stecken und vielleicht mal drüber nachdenken sollten, wie viel Geld und Protz am Ende wert sind, wenn alles den Bach runter geht. „Finstere Zeiten“ hingegen ist nicht nur ein Fingerzeig, sondern ein richtiges Bohren in jener Wunde, die man als „gesellschaftliche Entwicklung“ bezeichnen könnte. Anschließend kommt mit „Herz/Kopf“ der für mich stärkste Song auf der Platte. Eine Abrechnung mit (Leistungs)Druck, Fehlen von Empathie und dem, was daraus resultieren kann. Hier sehe ich vor meinem inneren Auge sprichwörtlich verzweifelte junge Menschen vor mir sitzen, abgehängt von einer Gesellschaft, in der es immer nur „höher, schneller, weiter, besser“ sein muss und in der kein Platz für Träumer und Phantasten ist. Ein Song mit Erpelpellengarantie.

„Dem Alltag fehlt der Pausenknopf, zu wenig Herz und zu viel Kopf!“

Kommen wir nun zum Part mit dem Abgesang. Mit freundlicher Unterstützung von Brechraitz wamsen die Dresdener uns als nächstes „Ausverkauf“ an den Nischel. Ein niedlicher kleiner Kotzbrocken von einem Song, der hart mit jenen ins Gericht geht, die sich nie für kleine Clubs begeistern können und auf Konzerte verzichten, weil man ja keine der Bands kennt. Amen dazu. Und auch in „Letzter Gruß“, „Idiotenbeats“ und „Wochenendsoldat“ wird ordentlich weiter Kante gezeigt. Insbesondere Letzterer ist dabei wieder ein schöner Kontrast aus einem wirklich gelungen, witzigen Suff-Song, bei dem man nach näherem Hinhören aber durchaus auch ein schlechtes Gewissen kriegen darf.

Generell muss man sagen, dass „Endstation Lethargie“ ein Album voller geiler Kontraste ist. Oi! bzw. Streetpunk, der mit jeder Note und jeder Zeile deutlich macht, wie viel einem solche Musik und die Szene dahinter geben kann, während er in genau diesen Zeilen selbst viele Dinge kritisch anspricht. Das ist eher mal so gar nicht lethargisch. Das ist treibend, ehrlich, bissig und so nah am Zahn der Zeit, dass man auch ohne Lupe erkennt, wo dieser Karies ansetzt.

Wer auf Punkrock steht, kommt an „Endstation Lethargie“ und East End Chaos nicht vorbei, egal ob strammer „Wochenendsoldat“ oder Vollblut-Untergrund-Supporter. Eine Scheibe, die für mich definitiv zu den (musikalischen) Highlights im Jahr 2023 gehört und selbst über dieses Zeitfenster hinaus nicht viel Konkurrenz fürchten muss.

 

Ben