Eigentlich könnte man doch meinen, dass die (verflucht nochmal) immer noch andauernde Pandemie den Frust und die Wut in der Gesellschaft soweit hoch geschraubt hat, dass insbesondere wütende Punkplatten öfter das Licht der Welt erblicken, als Schlümpfe nach einem fruchtbaren Sommer. Doch irgendwie habe ich in diesen ersten Monaten des Jahres 2021 nur sehr wenig, wirklich sehr Gutes gehört. Okay die „Turn Up That Dial“ der Dropkick Murphys war echt gut, wie ein alter Köter der noch mehr Zähne im Maul hat, als man zuerst dachte. Aber so ein richtiger Vorschlaghammer war’s nicht. Und über die weichgespülten Single-Auskopplungen, die mir die neue Broilers Scheibe schon vorm Release madig gemacht haben, möchte ich aus Fairnessgründen lieber keine weiteren Wörter verlieren. Bis jetzt also nur ziemliche Ebbe. Bis jetzt…

Und dann öffnest du an einem warmen Freitag den Briefkasten, findest einen Tonträger und nach sage und schreibe 60 Minuten (!) dreht sich dein Nischel wahrlich wie nach ner „Schelle aus Berlin“. Berliner Weisse haben wieder zugeschlagen und teilen aus, wie ne Mensafrau am letzten Tag vor der Rente.

Zugegeben: im Gegensatz zu oben erwähnten „Genrekollegen“ haben die sympathischen Berliner Schnauzen mit ihren ersten Singles im Vorfeld schon richtig Bock auf „Spüre dein Herz“ gemacht: „20 Jahre“, „Dämonen“ und „S.H.A.B.P.“ sind allesamt auf ihre eigene Art großartig. Und schon bei diesen drei Songs merkt man sofort, was dieses Album so besonders macht. Die 17 (nochmal: !) Songs der Scheibe decken ein unfassbar abwechslungsreiches Spektrum an Themen und Ideen ab, sodass eigentlich niemand sagen könnte, sich nicht hier und da mal angesprochen zu fühlen. Auffällig ist, dass auch hier die Grenzen zwischen Oi! und eher „klassischem Streetpunk-Sound“ (wenn es sowas überhaupt gibt) verstärkt ineinander übergehen. Das hat mir ja schon n „bisschen“ bei Brechraitz gefallen. Gewürzt wird dabei mit allerhand Unerwartetem: hier mal ne Trompete im Hintergrund, da mal ne Violine, ab und zu mal Klavier und über allem doch recht wechselnder Gesang. Und alles besser abgeliefert als deine letzte Amazon-Bestellung.

„Scheiße! Ach du scheiße! Da geht bestimmt was bei in‘ Arsch! Doch ich muss da durch, ja ich muss da durch – weil ich’s angezettelt hab!“

Zurück zu den Themen von „Spüre dein Herz“: klassischer Weise finden sich auf dem Album natürlich BW-typische Gassenhauer wie die bereits erwähnten „20 Jahre“ oder „Schelle aus Berlin“. Schön ironisch und mit sympathisch großer Fresse. Herrlich. Und dann haben wir noch „Scheisse“! Falls dieses Jahr noch irgendwelche überteuerten Lyrikpreise verliehen werden, sollten Berliner Weisse sofort das Preisgeld überwiesen kriegen. Frei nach Homer Simpson: „Der Football in die Leisten! Der Wettbewerb ist beendet!“ Als das Ding durch war, habe ich so herzhaft gelacht, wie ich es seit meiner ersten Vicki Vomit Scheibe nicht mehr gemacht habe.

Dann gibt es da noch die ernsten Themen und hier nehmen sich Toifel, Majo, Vale & Kai so ziemlich jedes Stück Dreck vor, dass so in der Welt rumvegetiert. An erster Stelle natürlich Nazis („S.H.A.B.P.“ ), ansonsten noch andere Arschlöcher („Wir schaffen das“), Szenepolizei („Miesepeter“) oder jene Typen, die denken, dass sie vorschreiben dürfen, wer eigentlich wen lieben darf („Trauriges Spektrakel“).
Richtig stark wird die Platte jedoch bei den wirklich tiefgründigeren Songs. „Dämonen“ ist ein brillant wütendes Stück Ehrlichkeit:

„Ihr könntet es ändern, wenn ihr mich einfach mal fragt, im richtigen Moment mich einfach mal umarmt […]“

„0177“ ist ein herrlich ironischer Spiegel unserer eigenen Smartphone-Sucht und dann sind da noch „Flügel“ und „Du & Ich“ – zwei Songs, für die ich einfach Nichts als Dankbarkeit empfinde.
Ersterer ist so ein „Taschenlampen-Song“, der selbst an den dunkelsten Tagen ein bisschen Licht bringen kann. So was brauchen die Menschen einfach immer wieder!
„Du & Ich“ ist meiner Meinung nach (Achtung: steile Thesen-Alarm!) eine wunderbare Liebeserklärung an den eigenen Nachwuchs. Wenn ich diesen Song höre, habe ich zumindest immer meine kleine Tochter vor dem inneren Auge. Und ein Song der das schafft, ist für mich automatisch in jeder guten Playlist ganz oben.

„Spüre dein Herz“ ist ein ungewaschenes, lautes und gleichzeitig lustiges und überraschend tiefsinniges Stück Herzblut, das irgendwie eben genau dieses kleine bisschen „mehr“ kann, was den Unterschied zwischen „geil“ und „absolut großartig“ ausmacht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass selbst wenn in zehn Jahren nur noch hunderte Schrottplatten produziert werden sollten, dann stehe ich bei diesen Songs immer noch „[…] grinsend in der Ecke und trinke glücklich Bier.“
Schließlich brauchen wir ja alle Ziele im Leben!

Ben